Wer zeigt schon sich schon gern verletzlich? Stark sein, Aushalten, Durchhalten – das sind Qualitäten, die sicherlich nützlich sind und auch in meinem Leben oftmals dafür gesorgt haben, dass es für mich weiter ging. Doch wenn das stark sein müssen zum Automatismus wird, trennt uns das von uns selbst und letztlich auch von anderen.

Vom Druck perfekt sein zu müssen

Als soziale Wesen sehnen wir uns danach, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Wir fürchten uns davor, uns verwundbar zu zeigen, aus Angst, abgelehnt zu werden. Wir setzen uns selbst unter Druck, wollen perfekt erscheinen, indem wir alles unter Kontrolle halten – es scheint fast eine unausgesprochene Vereinbarung in unserer heutigen Gesellschaft zu sein nur keine Schwäche zu zeigen. In unserer Kultur des „Größer-schneller-weiter“ scheint Verletzlichkeit keinen Platz zu haben.

Können wir vor uns selbst eingestehen, dass wir zu viel tragen, dass manches in unserem Leben nicht mehr rund läuft, dass wir nicht so perfekt sind, wie wir es gerne hätten?

Wir sind gewöhnt zu funktionieren, alles im Griff zu haben

Sich verletzlich zeigen ist mit einem Risiko verbunden. Wir laufen Gefahr, dass jemand auf unseren wunden Punkt aufmerksam wird und ihn dann zielgenau trifft. Davor haben wir Angst. Verletzt zu werden tut weh. Ich kenne das selbst nur zu gut. Oft verstecke ich meine Unsicherheit und gebe mich kompetent und selbstsicher aus Angst, die anderen könnten meine Mängel erkennen oder mich kritisieren.

Es ist natürlich, sich vor Schmerz zu schützen

Die amerikanische Psychologin und Meditationslehrerin Tara Brach verwendet in ihren Vorträgen oft Metapher des Raumanzugs, den wir uns zulegen, um uns Schmerz und Leid vom Leib zu halten. Es ist ausgesprochen menschlich, Schmerz vermeiden zu wollen.

Sich Verletzlich zu zeigen, birgt immer die Gefahr eine weitere Wunde davon zu tragen. Darum scheint ein Raumanzug, der Angriffe abpolstert, gar keine schlechte Idee zu sein.

Abgeschnitten von der Bandbreite unserer Emotionen

Das Fatale daran ist jedoch, dass wir auch vieles andere nicht mehr in der vollen Intensität spüren, z.B. Freude, Nähe oder gar unser eigenes Herz. Es fühlt sich an, als wäre immer eine Schicht zwischen uns und der Erfahrung, die wir erleben.

Es gibt Stellen in uns, die sind wie versteinert

Wir legen uns eine Schutz-Schicht zu, die manchmal so solide und undurchlässig sein kann wie Stein, die kaum eine Empfindung zu uns durchdringen lässt. Das Leben berührt uns nicht mehr in der Tiefe. Die Erfahrungen fühlen sich dumpf an. Wir errichten Selbstschutzbarrieren, die uns letztlich daran hindern, die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen zu spüren.

Auswirkungen im Körper

Unsere innere Schutz-Haltung schlägt sich auch in unserem Körper nieder und wirkt sich auf unsere Muskeln und unsere Körperhaltung aus.

Der Panzer, den wir um unser Herz gelegt haben, lässt unseren Atem nicht mehr frei fließen, wir fühlen uns eng.

Die Schultern nach vorne gezogen, den Nacken angespannt, so gehen wir dann durch unseren Tag. Meist fällt es uns erst auf, wenn die Anspannung so groß ist, dass unsere Muskeln schmerzen. Wir sehnen uns danach, das Starre, Angespannte loszuwerden.

Verletzlichkeit, der Schlüssel zu unserer Lebendigkeit

Die Sozialwissenschaftlerin Brené Brown hat in ihren Forschungen herausgefunden, dass Menschen, die sich ihrer Verletzlichkeit stellen und größere Risiken eingehen, auch eher positive Gefühle erleben können, wie Liebe, Verbundenheit, Vertrauen, Freude und Kreativität. Es scheint, dass Verletzlichkeit gleichzeitig der Schlüssel zur eigenen Lebendigkeit ist.

Verletzlichkeit ist Bestandteil unseres Lebens

Verletzlich zu sein gehört zum Menschsein. Wir meinen manchmal, wir wären die einzigen, die fragil, sensibel, verwundet sind und dabei trägt jeder Mensch seine Schatten und Verletzungen in sich. Wir zeigen sie uns nur so wenig und deshalb kommen wir uns mit unserer Verletzlichkeit so isoliert vor. In den letzten Jahren bin ich mutiger geworden meine Verletzlichkeit zu zeigen. Es fühlt sich echter an. Wenn mich z.B. die Trauer über den Tod meines Sohnes mal wieder packt, kann ich es heute leichter ansprechen und auch meine Tränen zeigen, statt so zu tun als wäre alles gut.

Das Zeigen von Verletzlichkeit vertieft unsere Beziehungen

Verletzlichkeit ist stark mit Authentizität verbunden. Sich verwundbar zeigen ermöglicht mehr Nähe und letztlich tiefere Beziehungen. Brené Brown hat in ihrer Studie herausgefunden, dass Menschen, die sich verletzlich zeigen und sich erlauben, ihre Ängste, Unsicherheiten und Schwächen zu teilen, oft ein größeres Maß an Verbundenheit, Empathie und Selbstwertgefühl erleben. Sie betonte, dass Verletzlichkeit die Grundlage für tiefere zwischenmenschliche Beziehungen bildet und echtes Mitgefühl ermöglicht.

Behutsamer Umgang mit den eigenen Wunden

Wenn wir tiefe Wunden davongetragen haben, ist es nicht möglich und auch nicht sinnvoll die Schutzmauern mit Gewalt einzureißen. Wir brauchen unbedingt einen geschützten Rahmen, Menschen, denen wir vertrauen, die uns wohl-gesonnen sind und die uns Sicherheit geben. Evtl. benötigen wir auch therapeutische Unterstützung. 

Aber vielleicht können wir die äußerste Schutz-Schicht ein wenig aufweichen. „meeting the edge and soften“ wie es Tara Brach nennt. Die scharfe Kante unseres Schutz-Schilds ein wenig weicher werden lassen. Bewusst hinschauen auf die verwundete Stelle mit viel Selbstmitgefühl.

„Die Wunde ist der Ort an dem Licht in dich eindringt.“(Rumi)

Was wir tun können?

  • die hohen Erwartungen an uns selbst herunterschrauben.
  • eingestehen, dass wir nicht perfekt sind, dass wir Fehler machen.
  • liebevoll zu uns selbst sein.
  • sich in einer Krise zugestehen, „es ist gerade einfach unglaublich schwer“ und dem Gefühl nicht gleich ausweichen.
  • uns mit Menschen umgeben, die uns wohl gesonnen sind und teilen, was uns „weh tut“
  • um Hilfe bitten und annehmen.
  • Das Unbequeme, das Ungeliebte, mit einem freundlichen Blick betrachten und dabei weicher und durchlässiger werden.

    Langsam und geduldig

    In der Traumatherapie wird für die langsame, achtsame Verarbeitung traumatischer Erlebnisse das Wort Titration verwendet. Aus der Chemie entlehnt, meint das Wort titrieren, tröpfchenweises Zugeben einer Substanz, um eine ungewünschte oder heftige Reaktion zu vermeiden. So langsam und geduldig wie beim Titrieren, müssen wir uns auch unserer Verletzlichkeit nähern. Nach und nach. Sanft, achtsam. 

    Das Wagnis heißt: Den Raumanzug Stück für Stück abzulegen, das Versteinerte in dir bröckeln lassen, ganz behutsam.

    Der Atem läßt unsere Panzerung sanft aufweichen

    Die Atemtherapie kann hierbei einen wertvollen Beitrag leisten. In der Arbeit mit dem Atem haben wir einen sanften Freund an unserer Seite, der ganz sacht unsere Panzerung etwas aufweichen lässt, wir werden durchlässiger, geschmeidiger. Sowohl Körperlich und auch emotional. Im bewussten Atmen dürfen wir darauf vertrauen, dass alles seinen Platz hat in uns: der Schmerz und die Freude, das Schöne und das Hässliche, die Trauer und das Glück, … Je durchlässiger wir werden, desto lebendiger kann der Fluss des Lebens durch uns fließen.

    Eine neue Lebendigkeit

    Wenn du zu dir selbst durchdringst und deine Verletzlichkeit spürst, wird dein Herz lebendig schlagen. Neues beginnt zu wachsen. Wage es. Gib Dich dem Leben hin.

     

    Quellen:

    www.tarabrach.com

    www.brenebrown.com

    Brené Brown, „Verletzlichkeit macht stark“, Goldmann Verlag, 2017

    Lopez, R. B., & Rice, K. G. (2017). „Vulnerability, authenticity, and self-esteem: An exploratory factor analysis of the vulnerability authenticity scale“. Personality and Individual Differences, 104, 254-259.

     

    “Very little grows on jagged rock.  Be ground.
    Be crumbled, so wildflowers will come up where you are.
    You’ve been stony for too many years.
    Try something different.
    Surrender.“

    (Rumi)

    „Auf zerklüfteten Felsen wächst sehr wenig. Sei guter Boden.

    Sei lockere Erde, damit Wildblumen aus dir wachsen. Seit zu vielen Jahren bist du schon versteinert.Versuche etwas anderes.

    Gib dich hin.“ 

     

    Wenn du tiefer in die Thematik von Verletzlichkeit eintauchen möchtest, empfehle ich dir den Ted Talk von Brené Brown.

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